Morgens halb neun in Deutschland. Seit
einer Stunde sitze ich in der Schlange beim Jobcenter. Jawohl. Sitze. Auf
festmontierten Gitterstühlen, die im Sommer eiskalt sind und bei kurzen Hosen
ein wunderbares Muster auf den Oberschenkeln hinterlassen.
Noch etwa 15 Leute sind vor mir. Es geht
hübsch der Reihe nach. Rechts von mir wartet eine Frau. Auf ihren Knien tollt
ein 3 jähriges Kind. Es langweilt sich. Verständlich. Eine Mitarbeiterin dieses
Amtes sagte einmal zu mir, dass sie es kritisch fände, wenn Mütter ihre Kinder
dorthin mitbrächten. Schließlich würden die Kinder ihre Eltern in der Rolle des
armen Bittstellers erleben und dies solle man ihnen und ihrer Psyche ersparen.
Kein Witz. Ich blicke das kleine Mädchen an und frage mich, ob es jetzt für
immer geschädigt sein wird.
Rechts von mir sitzt ein Türke. Er
fuchtelt mit seinen Unterlagen herum, die er feinsäuberlich in eine Mappe
sortiert. Zwischendurch blickt er wach und sehr präsent in den Raum, um zu
sehen, ob es endlich weitergeht. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass er gar
nicht so aussieht, als ob er hier hin gehört. Blankgeputzte Schuhe, daunengefütterte Jacke, mit Echtfell am Kragen, gut frisiert. Was ist da
passiert? Aber wer gehört schon hier her? Laut Statistik und landläufiger
Meinung gehöre ich auch nicht an diesen Ort. Das schlechte Gewissen packt mich.
Ich sehe die Wartereihe entlang. Niemand möchte hier sein. Das spürt man ganz
deutlich. Demütig erinnere ich mich daran, dass es jeden treffen kann, auch
wenn es in unserer Gesellschaft nicht wenige Menschen gibt, die das für unmöglich
halten.
Wir alle sitzen hier, weil wir Hilfe und
Unterstützung brauchen, aus was für Gründen auch immer, ob verschuldet oder
unverschuldet. Das spielt keine Rolle. Seit die Menschen unserer Gesellschaft
es Ämtern überlassen, wie für die Hilfebedürftigen gesorgt wird, ziehen sich
viele aus der Verantwortung heraus, urteilen aber trotzdem gerne über das Elend der
anderen.
Eine Frau kommt in den Raum. An ihrem
ruhelosen Blick erkenne ich schnell, dass sie wenig Lust hat sich in diese
lange Schlange einzureihen. Verstohlen sieht sie sich um, ob nicht vielleicht
doch die Möglichkeit besteht, schnell an einen der Schalter zu huschen. Als sie
in die Richtung geht, kommt schnell einer von den, wie ich sie nenne „Anweisern“.
Sie diskutiert mit ihm, dass sie nur schnell was abgeben müsse. „Dat müssen se
alle hier“, erwidert er monoton und weist ihr, ohne sie anzusehen, einen Platz
am Ende der Schlange zu. Innerlich empfinde ich Genugtuung. Ein kleines Stück
Gerechtigkeit. Schließlich sitze ich hier auch wie eine geduldige Engländerin.
Als ich endlich nach einer weiteren
halben Stunde die erste in der Warteschlange bin, raunzt mich eine dicke Frau
mit straff zurückgebundenem Pferdeschwanz fünf Plätze hinter mir nervös an, ich solle mich hinstellen, damit
die anderen einen Platz weiterrücken können. Ich bleibe sitzen, mit dem
Hinweis, dass es dadurch auch nicht schneller ginge. Wenn Blicke töten könnten.
Als ich schließlich dran komme, dauert
mein Begehr keine 2 Minuten. Warum ich da war und weshalb ich das nicht anders
regeln konnte? Wenn man Hartz IV bezieht gibt es neben den Rechten, wie die
finanzielle Unterstützung, die das Überleben sichern soll, auch einige
Pflichten. Auf den ersten Blick ist das nur natürlich und gerecht.
Aber es gibt eine besondere Pflicht, an
die ich mich nicht wirklich gewöhnen kann. Ich darf die Stadt oder den Ort an
dem ich wohne nicht ohne Erlaubnis – ich sage bewusst nicht Kenntnis – des
Jobcenters verlassen. Wenn ich zum Beispiel für ein paar Tage verreisen möchte,
weil meine Mutter gestorben ist oder weil ich den Geburtstag meines Onkels
feiern möchte und dieser wohnt ein wenig weiter weg, muss ich die sogenannte ‚Ortsabwesenheit‘ beantragen. Nun
erklärte man mir, dass ich doch begreifen müsse, dass dies unumgänglich sei. Im
Fachjargon heißt das: Während der
Arbeitslosigkeit hat man dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Das
geschieht vornehmlich an dem Ort, an dem man wohnt.
Weshalb man sich nicht von woanders
bewerben oder von einem anderen Ort zu einem Vorstellungsgespräch aus anreisen
kann, ist mir schleierhaft. In Zeiten von Handy und Internet ist das nicht
gerade eine Kunst. Ich vermute, dass man Arbeitslosen diese Art der
Flexibilität nicht zutraut. Oder aber es steckt gar etwas ganz anderes
dahinter.
Nun halte ich mich an die Spielregeln,
auch wenn ich sie im Kern nicht durchdringe oder mit ihnen einverstanden bin.
Ich bin eine brave Bürgerin, die sich den Zorn der arbeitenden Bevölkerung
ersparen möchte, indem sie auch noch Ansprüche stellt.
Doch an diesem Morgen bitte ich nicht
darum 2 Tage die Stadt verlassen zu dürfen, sondern ich melde mich zurück. Auch
das gehört zu den Regeln. Ich hatte Weihnachten bei meiner Familie verbracht.
Nun stehe ich am Schalter, wie ein Dieb auf Bewährung, der sich bei seinem
Bewährungshelfer melden muss. Schließlich könnte es ja sein, dass ich faul und
betrunken noch drei weitere Tage unter dem Tannenbaum meiner Oma gelegen hätte.
Dem wird vorgebeugt, indem man mir feste Strukturen vorgibt, wo ich wann und
wie lange sein darf. Mir ist nicht zu trauen. Dafür muss ich Verständnis haben.
Alles würde außer Kontrolle geraten, wenn man dem nicht von vorne herein
Einhalt gebieten würde.
Arbeitende Leute haben schließlich auch
keine Gewalt über ihre Freiheit – äh, freie Zeit. Urlaub, Feierabend,
Wochenende. Alles ist getaktet und vom Chef abgesegnet. Warum sollten es
Arbeitslose da besser haben? Richtig. Ich wäre auch neidisch, wenn sich das
faule Arbeitsgemüse die Zeit frei einteilen könnte. Wo kämen wir denn dahin?
Unerhört. Die einzige Aufgabe, die Arbeitslose haben, ist ihre Arbeitslosigkeit
unverzüglich zu beenden. Arbeitslose sind schließlich nichts anderes als
Arbeitende ohne Arbeit.
Keep
calm and carry on.
Für mich sind diese Regeln nichts
anderes als Paternalismus. Wir leben in einem Sozialstaat, den wir manchmal
auch als Vater Staat bezeichnen. Aber dieser Vater sorgt für uns manchmal in
einer Art und Weise, wo Jesper Juul schreiend im Dreieck springen würde.
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Mir ist klar, dass es für das
gesellschaftliche Leben gewisse Regeln geben muss, damit wir uns nicht die
Köpfe einschlagen. Auch bin ich dankbar, dass Menschen, die sich nicht selbst
versorgen können, soziale Unterstützung durch die Gemeinschaft erfahren. Das
ist richtig und gut.
Trotzdem möchte ich mich nicht wie ein
Bürger fühlen, dem man durch seine Hilfsbedürftigkeit auch jegliche Mündigkeit
abspricht. Wie ein Kind, dem man nicht so ganz traut, dass es den frisch gebackenen
Kuchen, trotz Versprechen nicht doch komplett aufessen wird.
Unser System arbeitet ständig mit Strafe
und Sanktion, um die Kontrolle zu behalten. Wie ein Vater, der sein Kind zwar
ernährt, dafür aber auch blinden Gehorsam und den Willen, ihn stolz zu machen
erwartet.
Häufig höre ich das Argument, dass
solche Gesetze eben sein müssten, weil es ja auch die schwarzen Schafe gebe,
die nur darauf lauern, es sich auf Kosten von anderen gemütlich zu machen.
Aber erstens möchte ich nicht aufgrund
einer Minderheit mit in Sippenhaft genommen werden.
Und zweitens frage ich mich, wie diese
Grundannahme zustande kommt, dass, wenn man die Zügel etwas lockerer ließe, der
Mensch sich gleich jeglicher Faulheit anheim geben würde. Was ist das für ein
komisches Menschenbild?
Bauman erklärt sich das Übermaß an staatlicher Kontrolle mit einem Kontrollverlust des Nationalstaats in anderen Regulationsbereichen. Foucault habe ich so verstanden, dass die Macht und ihre Agenturen, einfach ihre Arbeit machen und sich dabei immer weiter zu perfektionieren zu suchen. Da dies qua Biomacht und Bevölkerungsperspektive statistisch geschieht, wird man dabei immer auf die messbaren Quantitäten reduziert. Braucht man also quasi nicht persönlich nehmen, weil die Macht nicht anders arbeiten kann, außer man ersetzt das komplette Paradigma nach dem sie arbeitet. Wovon wir weit entfernt sind.
AntwortenLöschenDanke für deinen Kommentar. :) Du hast vollkommen Recht. Da sind natürlich komplexe Prozesse am Werk, die man nicht mal so eben ändern kann. Trotzdem finde ich es manchmal erschreckend wie tief dieses Misstrauen gegen Arbeitslose im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist und ja, dies nervt manchmal einfach. :D
AntwortenLöschen»… weil es ja auch die schwarzen Schafe gebe, die nur darauf lauern, es sich auf Kosten von anderen gemütlich zu machen. «
AntwortenLöschenDie gibt es: das obere eine %, die die übrigen 99 % in Geiselhaft halten. Die brauchen nicht mal mehr
zu lauern: die JC-Mitarbeiter sind ihre Treiber bei der Jagd auf uns alle, unser Leben und was es ausmacht.