Samstag, 11. April 2015

Das Leben durch die Kameralinse- oder die Sucht nach der Archivierung der Gegenwart


Manchmal glaube ich, es wäre das Beste, wenn man alle Mobilfunkgeräte mit Kamerafunktion dieser Erde in einem gigantischen Vulkan auf einer Südseeinsel einschmelzen würde. Das einzige Gute an ihnen ist, dass sie mir innerhalb weniger Minuten offenbaren, von welchen meiner Mitmenschen ich lieber Abstand halte. 

Denn es geht mir auf den Sack: das dauernde, inflationäre Fotografieren und darauffolgende Zurschaustellen von Nichtigkeiten, Banalitäten, Alltagskinkerlitzchen. Es gibt keine gesellschaftliche Aktivität mehr, bei der nicht jedes verdammte Detail mit der Kamera festgehalten werden muss. Die eigene Hackfresse, die Hackfressen der Freunde und Über-drei-Ecken-Bekannte, der Eisbecher Pinocchio, der Sanifair-Bon von der Autobahnraststätte, der Caipirinha am Strand. Jeder einigermaßen schöne Moment, der passiert, muss dokumentiert werden. Ich will gar nicht wissen, wieviel Zauber und Besonderheit eines Sonnenuntergangs, einer Stimmung auf dem Konzert, einer Mahlzeit mutwillig dadurch zerstört werden, dass fortwährend eine Pose eingenommen oder das vorteilhafteste Motiv gesucht und gegebenenfalls konstruiert werden muss. 

Woher kommt diese Obsession, das eigene Leben minutiös archivieren zu wollen? Und damit die Gegenwart sofort in die Vergangenheit zu verwandeln? Vielleicht will man sich und dem erwartungsfreudigen Publikum in sozialen Netzwerken beweisen, was für ein abwechslungsreiches und erfülltes Leben man führt. Oder grassiert etwa die Angst, wie ein Demenzkranker sofort wieder alles zu vergessen? Möglicherweise braucht man die Bilder, um glauben zu können, dass man die Situation tatsächlich erlebt hat. 

Da beißt sich die Katze in den Schwanz: würde man nicht dauernd das Smartphone im Anschlag haben, würde man den gegenwärtigen Ist-Zustand bewusst wahrnehmen, ihn genießen, auskosten, in sich aufsaugen und in der eigenen Erinnerung behalten. Stichwort Achtsamkeit

Beim eifrigen Versuch, alles Sehenswerte einzufangen und ja nichts zu verpassen, verpasst man das Wichtigste, nämlich die Sache selbst. Und wofür beschneidet man freiwillig seine Lebensqualität? Damit man schon in zwei Wochen nostalgisch von den vergangenen Geschehnissen schwärmen kann, die man erlebt (oder besser gesagt nicht erlebt) hat. Damit man für ein paar billige Seelenstreichler-Likes sich selbst und anderen beweisen kann, wie vermeintlich toll und interessant das eigene Dasein ist.



So, genug mit Aufregen. Ich gehe jetzt Snake spielen. Auf meinem Nokia 3410.

1 Kommentar:

  1. Meine ganz persönliche Erfahrung ist ja: umso mehr das eigene Leben banal, uninteressant und langweilig ist, umso mehr die ach so tolle Liebesbeziehung in Wahrheit von Streitereien zerfressen wird und umso mehr die eigene Familie verkorkst ist - desto größer wird der Drang nach der bigotten und verlogenen Selbst-Inszenierung in den sozialen Netzwerken.

    Wer wirklich selbstbewusst ist, benötigt auch keine Facebook-Profilbild-Likes.

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