Donnerstag, 5. November 2015

Die Unterschicht




Ich mag dieses Wort nicht. Unterschicht. Klingt wie Kaffeerest oder die Dreckkruste am Boden des Mülleimers. Kein Begriff ist mit mehr Klischees behaftet, außer vielleicht Feminismus oder der Islam, wie die Unterschicht.

Seit der Einführung von Hartz IV werden Menschen, die auf die finanzielle Unterstützung durch den Staat angewiesen sind, systematisch diskriminiert. Die Schubladen, in welche diese Menschen und damit auch ich, gesteckt werden, sind zum Teil so absurd, wie auch stereotyp, dass ich mir jedes Mal die Haare raufen möchte. 

Zur der Verbreitung dieses Bilds tragen vorrangig die Medien bei, in dessen Kerbe auch die meisten  Politiker und die gesamte Öffentlichkeit gleich mit rein hauen. Dabei spreche nicht einmal von den gängigen Privatsendern, wie RTL oder Prosieben, welche durch ihre gescripteten Realityformate ein völlig verzerrtes Bild von Menschen in Armut zeigen. Meiner Beobachtung nach sind es eigentlich alle Medien. Selbstverständlich auf einem höheren Niveau und nicht so plakativ. Die Diskriminierung erfolgt häufig viel subtiler und fällt selbst mir nicht immer sofort auf. 

In der Regel werden Angehörige der Unterschicht wie überdrehte Borderliner, bzw. völlig bindungsunfähige und vollkommen irrationale Kinder dargestellt, die weder mit Geld umgehen können, noch sonst ihr Leben irgendwie im Griff haben. Sie sind Sklaven ihres hedonistischen Triebs und sind vollkommen auf  ihren eigenen Vorteil bedacht. Es geht ihnen lediglich darum, den Staat und ihre ganze Umgebung so viel wie möglich auszubeuten und so wenig wie möglich dafür leisten zu müssen. Dies äußert sich beispielsweise in einer totalen Bildungsverweigerung, da Bildung für völlig unwichtig gehalten wird. Schließlich orientieren sich Menschen aus der Unterschicht komplett und ausschließlich nur an Z-Promis, wie den Kardashians und Daniela Katzenberger, die es ja auch ohne Bildung „geschafft“ haben. 

Aus diesem Vorurteil speist sich ja auch die Ansicht, dass Menschen an ihrer Armut selbst schuld sind, da sie undiszipliniert und triebgesteuert sind. Ihnen fehlt die Fähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu treffen und für die Zukunft vorzusorgen, was etliche Teenie-Schwangerschaften belegen. So sind sie, die Menschen aus der Unterschicht. Emotional, irrational und zu jeder vernünftigen Kommunikation unfähig. Ihr Wortschatz ist beschränkt. Zu mehr als „Ey Alter, lass die Finger von meiner Ollen“, reicht es nicht. Rosenberg würde mit seiner gewaltfreien Kommunikation scheitern. 

Was ich allerdings seltsam finde, ist, dass ich diese Vorurteile und Klischees in der Realität nicht bestätigt finde. In der ganzen Zeit, wo ich mit anderen Erwerbslosen in Jobcentern und Maßnahmen in Kontakt gekommen bin, habe ich niemanden getroffen, der diesem Bild entsprochen hätte. Natürlich gab es hin und wieder Menschen, die ziemlich am Ende waren, überladen von Problemen, Schicksale, die auf eine bewegte Vergangenheit zurückblickten und denen vielleicht auch nicht mehr zu helfen war. Aber die Mehrzahl der Menschen waren wie du und ich. 

Interessanterweise habe ich neulich sogar einen Artikel darüber gelesen, dass Menschen aus der Unterschicht mehr Mitgefühl zeigen, als reiche Menschen. Reiche haben es in der Regel nicht nötig sich um die Gunst anderer zu bemühen. Sie sind nicht auf die Hilfe anderer angewiesen und neigen deshalb dazu auch anderen weniger zu helfen. Besonders reich geborene Jugendliche haben angeblich sogar oft Probleme damit Blickkontakt mit anderen Menschen zu halten und sind daher in ihrer sozialen Interaktion eingeschränkter. 

Ich fand diese Sichtweise ziemlich interessant, die sicher nicht für jeden wohlhabenden Menschen gilt. Aber man braucht wohl nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass auch Reiche drogenabhängig, hedonistisch und völlig asozial sein können.

9 Kommentare:

  1. Ich war ja früher Schulbibliothekarin an Internationalen Schulen - deine letzten zwei Absätze sind da Küchenpsychologie, auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt. Besonders die deutschen Schüler hatten relativ oft nicht nur soziale, gesundheitliche (wer sein Leben lang auf Ritalin ist wird zwangsläufig abhängig, Körperchemie und so...) sondern auch - Achtung! - bildungstechnische Probleme. So nach dem Motto: Bildungsabschlüsse braucht kein Mensch, mit dem und den Nachnamen kommst du überall rein. Ich erinnere mich an den damals 16-jährigen Sohn eines Software-Marktführers, der morgens rein kam, ohne Material, Füße auf den Tisch und mit Einstellung jetzt laber du mal da vorne, juckt mich eh alles nicht, also so ziemlich ganz genau das, was man den Armen immer unterstellt. Und er war nicht der einzige...

    An einer anderen Schule (Internationale Schulen sind Privatschulen, damals kostete die zehnte Klasse pro Monat mehrere tausend Euro, ALG II-ler können das nicht aufbringen) schoss zirka ein halbes Jahr vor Schulabschluss die Schwangerschaftsquote von 0 auf 5 Mädchen. Ist sicher auch nicht die Regel, aber das gibt es auvh.

    Das mit dem erhöhten Mitgefühl bei Ärmeren (in wie weit das generell so ist weiß ich nicht) notierte schon Keith Haring Ende der Siebziger/Anfang der 80er in sein Tagebuch. Wenn ich die Stelle finde, dann schreibe ich sie dir.

    OT Byzantio hab ich leider nicht geschafft, mir ist was dazwischen gekommen, aber ich merke es mir.

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    1. Klar gibt es auch Leute, die mit Bildung nichts anfangen können und es gibt Leute, die sämtlichen Klischees, die ich beschrieben habe entsprechen. Das habe ich ja sogar in meinem Text erwähnt. Aber zum einen beschreibe ich ja lediglich meine eigenen Erfahrungen und davon habe ich ja doch so einige und zum anderen ging es mir ja um die einseitige Berichterstattung, die mich nervt. Fakt ist, dass viele eben nicht diesem Klischee entsprechen und somit stigmatisiert werden. :)

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    2. Es war auch nicht - falls es so rüberkam, tut mir leid - irgendwie gegen deine Erfahrungen gerichtet oder so gemeint, dass das Klischee nie zutreffen würde. Jedes Klischee fußt irgendwo auf einem mehr oder weniger großen Prozentsatz der jeweilgen Gruppe, die ihm tatsächlich entspricht.

      Was mich, auch das nicht negativ gemeint, verwundert hatte (auch hier wohl meine Erfahrung, Subjektivität ist alles... ;) ), dass das was du in den letzten Absätzen schreibst noch von jemandem als "interessant" empfunden werden kann. Rein subjektiv, das liegt vielleicht an dem sozialen Umfeld und meinen Erfahrungen, denke ich mir bei so was immer gleich, wieso ist das interessant, ist doch fast schon Allgemeinplatz. Stimmt natürlich nicht, gibt vielleicht, die das nicht wissen oder nicht auf dem Schirm haben.

      Dein letzter Satz im Kommentar: Ja!

      In den Maßnahmen für erwerbslose Menschen mit Behinderung (und es gibt einen Paragraf, dass denen nur Maßnahmen für speziell diese Gruppe bezahlt werden dürfen, egal wie qualifiziert, arbeitswillig und -fähig sie sind) zum Beispiel wird gerne davon ausgegangen, dass kein Teilnehmer (auch wenn da einer mit Dr.-Titel sitzt, schon gehabt) mehr als Wissenspension 4. Grundschulklasse draufhat, sind ja Behinderte, können ja nichts. Wenn die Leute sich dann wehren, werden sie als radikale Aktivisten abgestempelt obwohl sie nur ihre Rechte geltend machen und wie Erwachsene behandelt werden wollen. So ist wohl das Klischee entstanden jeder Selbstbestimmte sei politischer Extremist (das gibt es wirklich). Genau so wird auch alles andere an Klischees, gerade den "Neuen" zum Beispiel Ärmeren gegenüber entstehen. Weil es halt immer eine kleine Gruppe gibt, die...

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    3. Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich in meinem Kommentar vielleicht auch ein wenig unglücklich ausgedrückt. Letzlich sind wir uns ja einig.
      In einer besseren Welt wäre die Aussage in meinem letzten Absatz tatsächlich selbstverständlich und damit ein Allgemeinplatz. Aber ich befürchte, dass es sehr viele Menschen gibt, die gar nicht soweit denken. :)

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    4. Dann ist ja gut :) Mir fällt noch was auf: Das Wort "Wissenspension", das ich da oben verwende kennt in NRW kein Mensch, gibt es aber wirklich. Man kann das nicht nur als "Pensum" lesen, es heißt auch das gleiche, ist aber süddeutscher Regionaldialekt aus meiner Kinderzeit. Wenn das einer nicht weiß (was ja in NRW keiner tut, weil das Wort keiner kennt), kann man mir sicher auch was unterstellen... ;)

      (Laut Klischee, Sarrazin oder sonst wem aus der Ecke dürftest du das Wort darauf schieben, dass mein Bruder "nur" den Hauptschulabschluss hat, Sippschaft, Gene, weißt scho...)

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  2. "Was ich allerdings seltsam finde, ist, dass ich diese Vorurteile und Klischees in der Realität nicht bestätigt finde. In der ganzen Zeit, wo ich mit anderen Erwerbslosen in Jobcentern und Maßnahmen in Kontakt gekommen bin, habe ich niemanden getroffen, der diesem Bild entsprochen hätte."

    Es kommt natürlich auch darauf an, in welchen "Kreisen" man sich bewegt. In Maßnahmen für arbeitslose Akademiker trifft man solche Menschen natürlich nicht an. Auch im eigenen Freundeskreis sieht man sie wohl nicht. Aber es gibt sie. Jedes Klischee findet irgendwo auch seine Bestätigung in der Realität. Problematisch wird es nur, wenn damit eine ganze Gruppe von Menschen diskriminiert wird, was ja bei den Erwerbslosen ganz bewusst gemacht wird.

    "Aber man braucht wohl nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass auch Reiche drogenabhängig, hedonistisch und völlig asozial sein können."

    Wichtiger Punkt! Denn die eigentlich sozialresistenten Schichten sind nicht die finanziell armen Menschen, sondern die Vermögenden und Superreichen, die ihren gesamten Reichtum nur deswegen besitzen, weil sie es den Armen gestohlen haben (Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung). Die Skrupellosigkeit, die Gier und die Menschenverachtung von Bankstern, Hedgefonds-Managern und Börsianern richtet weitaus größere gesellschaftliche und menschliche Schäden an, als der biertrinkende, pöbelnde Proll.

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  3. Das Phänomen nennt man Klassismus. Einen guten Text gab es mal in der konkret, der unter anderem das Buch "Chantalle tu ma die Omma winken!" kritisiert.

    http://www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2013/heft-52013/articles/zu-hoch-fuer-dich.html

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    1. Danke für den Link. Hat mir wirklich einen Aspekt aufgezeigt, der mir vorher so gar nicht bewusst war. Aber es liegt wohl letztlich immer am Einzelnen, ob er die Sichtweisen, die er hat, ständig hinterfragt und immer wieder prüft oder ob er sich langsam und bequem von seiner Umwelt irgendwelche Klassendünkel einreden lässt.

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  4. Vor vielen Jahren wohnte ich mal in einer ganz üblen Gegend mit Nachbarn die das Unterschichtsklischee voll erfüllten-nur bekam kein einziger von ihnen Transferleistungen! Diese Menschen finanzierten sich ihren Lebensunterhalt auf nicht ganz legale Art.;) Sie waren aber überaus gastfreundlich und kulturell aufgeschloßen. Es gab auch einige, die mit der Bürokratie schlichtweg überfordert waren und denen diejenigen mit illegalen Einkünften, aushalfen. Bislang habe ich eher den Eindruck H4 wird von Menschen bezogen denen ein geordnetes Leben wichtig ist, die für den Überlebenskampf abseits von Legalität und Mehrheitsgesellschaft nicht hart genug sind, jedenfalls war das meine Motivation für H4, denn im Nachhinein betrachtet erscheint mir das Leben meiner früheren Nachbarn freier als meins.

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