Samstag, 19. Dezember 2015

Esoterik ist unterlassene Hilfeleistung


Ich habe wieder einmal feststellen müssen, dass esoterische Lebensberatung (beispielsweise in Form von Büchern oder Coachings) nichts für Leute mit psychischen Erkrankungen ist. Häufig als Rettungsanker angesehen, der Halt geben soll, wenn andere Methoden nicht recht klappen wollen, kann sie in einer deutlichen Verschlechterung der Gesamtsituation des Kranken resultieren.
 
Du bist nicht krank

Seit einigen Jahren lese ich hin und wieder mal esoterische und populärpsychologische Selbsthilfebücher. Die meisten hatten Hand und Fuß und konnten mir einige neue, hilfreiche Sichtweisen vermitteln. Allerdings hatten sie einen beunruhigenden Ansatz gemein: psychische Störungen werden als solche nicht anerkannt;  es wird ihnen explizit und implizit der Krankheitswert abgesprochen. Stattdessen wird von "selbsterzeugtem Mangel",  schlechten Schwingungen und der Bestimmung des Einzelnen in der Ordnung des Universums geredet. Diese Verharmlosung der Krankheiten kann gefährlicherweise dazu führen, dass a) der Betroffene seine Behandlungsbedürftigkeit nicht akzeptiert und b) die gesellschaftliche Anerkennung von psychischen Störungen und die Rücksichtnahme auf Betroffene noch dürftiger werden, als sie es jetzt schon sind.

 Du bist selbst schuld

Die dort erläuterte "Behandlungsmethode" lautet: Abwälzung der Problematik auf die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen. Psychische Probleme (und auch organische Krankheiten) seien selbstverschuldet und könnten deshalb nur vom Jeweiligen allein und ohne Hilfe von außen gelöst werden. Die Störungsbilder seien ausschließlich durch die Veränderung von Denkmustern und Glaubenssätzen oder durch Einsatz von meditativen Praktiken oder Achtsamkeit zu beheben. Genetische und biologische Faktoren, die eine Medikation erfordern, werden vollkommen außen vor gelassen oder gar als Ausreden, um sich nicht mit den wirklichen Problemursachen konfrontieren zu müssen, verunglimpft.


Nur du allein kannst dir helfen

Stattdessen solle sich der Klient endlich mal aus seiner Opferhaltung begeben und vollste Verantwortung für sich und seine Lebenssituation übernehmen. Prinzipiell finde ich es einen guten Ansatz, seine persönliche Kraft und Entscheidungsgewalt anzuerkennen, um nicht hilflos und passiv dem Leben gegenüber zu stehen. Allerdings kann diese Anspruchshaltung gegenüber sich selbst einen psychisch Kranken unglaublich unter Druck setzen. Er muss nicht nur mit dem Leid seiner Krankheit klarkommen, sondern auch noch die Last seiner angeblich selbstverschuldet gescheiterten Heilung auf sich nehmen. Ein nicht endender Kreislauf von Überforderung, Verzweiflung und Selbsthass beginnt. Erfolglos versucht er sich wie Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen.

 Schulpsychologie ist schlecht für dich

Wie man sich denken kann, findet in esoterischen Ratgebern gleichzeitig eine allgemeine Abwertung der Schulpsychologie statt. Diese adressiere ja nicht die wahren Gründe psych. Erkrankungen, sondern wolle den Klienten nur möglichst schnell wieder zum funktionstüchtigen Rädchen machen und dabei massig Kohle mit Pharmazeutika verdienen. Dabei funktioniert die esoterische Selbstoptimierungs- und verwirklichungsschiene genauso wie unsere neoliberale Wirtschaftskultur! Auch hier gilt: Jeder ist seines Glückes Schmied! Du musst dich anstrengen, du kriegst nichts geschenkt! Wer Hilfe annimmt, ist schwach! Wer es nicht alleine packt, hat es halt nicht anders verdient! Postmaterielle Selbstoptimierung unterscheidet sich von der materiellen anscheinend nur in den zu erreichenden Zielen und Werten, nicht jedoch in der Herangehensweise.

Für gesunde Menschen, die einfach nur unzufrieden mit ihrem Leben sind und in der Hinsicht Input brauchen, können Teilbereiche der Esoterik eine ganz interessante und inspirierende Angelegenheit sein. Wenn man die Kapazitäten und die Energie dazu hat, sich reflexiv und konstruktiv mit den Inhalten auseinanderzusetzen, warum nicht. Ich sehe nur ein großes Problem darin, wenn depressiven, angst- oder persönlichkeitsgestörten Menschen vermittelt wird, es sei doch alles ganz einfach und sie seien nur zu faul oder zu feige, um ihre Heilung anzugehen. So ein Urteil könnte ich nämlich auch kostenlos von Großtante Erika beim Adventskaffee bekommen.

4 Kommentare:

  1. Ja, solche Ratgeber sind für psychisch Kranke wirklich nicht empfehlenswert. Ein paar gute Tipps und Hilfen werden meist durch den Grundton (selber schuld, mach dein Glück "einfach" selbst) kaputt gemacht.
    Mein Mann ist seit Jahren psychisch erkrankt - und wenn das so einfach wäre ... würden wir nicht immer noch kämpfen. Manchmal warte ich darauf, dass ein Buch erscheint: Asthma mit Hilfe deiner positiven Einstellung heilen .... aber STOP, dass ist ja eine "echte Krankheit". *hier krieg ich grad die Krise*

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  2. Bücher in der Art gibt es ja leider schon...ich weiß nicht, ob du Robert Betz kennst, aber der vertritt die Ansicht, dass alle organischen Krankheiten aus seelischen Problemen entstehen. Also z.B., dass man Krebs bekommt, wenn man seine Sorgen und Ängste unterdrückt und verdrängt.

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  3. Kennst du dieses Buch, ich habe es nicht gelesen, dass homeopathische (eventuell falsch geschrrieben) Strichcodes auf der Wange Krankheiten heilen sollen? In einer Gesellschaft in der so was nachgefragt und gekauft wird haben Bücher wie in deinem Artikel erwähnt leichtes Spiel. Ich habe auch zugegeben nicht davon viel gelesen, aber ich muss das auch auch nicht.

    Das ist wie diese Erwartung an Suchtkranke: "Lass es doch einfach sein" bzw. "Du willst ja nicht aufhören" Und eigentlich ist es das gleiche, weil Sucht auch (mit) eine psychische Krankheit ist. Bei Sucht gibt es natürlich noch mal die Tücke, dass einer, der clean/nüchtern werden will den "Entschluss" dazu fassen muss und viele Leute eben glauben (zum Teil auch forciert durch "Fachliteratur"), dieser Entschluss sei ein normaler nach dem Motto "Ich hör jetzt auf". Aber so geht das nicht. "Ich hör jetzt auf" denken die sich oft vorher jahrelang und können es nicht, weil der Zwang eben stärker ist, was die Leute fertig macht. (In meinem Blog ist ausgerechnet der Artikel darüber wie mein Stiefvater trocken wurde und was vorher drastisches passieren musste der meistgeklickte, es scheint also viele zu interessieren. Abgesehen davon, dass natürlich viele meiner Leser selbst Kinder von Menschen mit diesen Krankheiten sind, jemand der gar nichts damit zu tun hat will so was auch nicht lesen, glaube ich.)

    Ich glaube nicht, dass andere psychische Erkrankungen anders sind, siehe auch das Klischeebeladene "Dann geh halt mal raus" oder "Musst du Sport machen" bei depressiv Erkrankten oder "So'n Quatsch, der Kühlschrank spricht nicht!" bei Menschen mit Schizophrenie (hatte eine Kommilitonin von mir).

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  4. "Dabei funktioniert die esoterische Selbstoptimierungs- und verwirklichungsschiene genauso wie unsere neoliberale Wirtschaftskultur!"

    Genauso ist es!

    Die Dogmen der "Eigenverantwortung" und der "eigenen Einstellung" fungieren in Politik und Wirtschaft ganz genauso als Druckmittel, Verantwortungsumkehrung sowie Negation von struktureller Gewalt, wie in der Esoterik. Kein Mensch lebt in einem luftleeren, völlig unabhängigen Vakuum. Was soll dieser permanente Schwachsinn? Mich ärgern diese Coacher, Esoterik-Bücher und auch Leute, die das unreflektiert nach quatschen zusehends.

    Egal ob im Beruf, der Familie, bei Behörden oder im Supermarkt - überall haben wir Sachzwänge, Normen und Verhaltensanforderungen. So zu tun, als gäbe es das alles nicht und jeder sei für sein Unglück letztlich auch selbst verantwortlich, ist eine ungeheure Verantwortungsumkehrung und Verdummung. Wenn ich beispielsweise Sozialabbau betreibe, Investitionen in Kultur, Bildung und Sport radikal kürze oder als Manager Massenentlassungen beschließe, damit die Aktionäre zufrieden sind, produziere ich so mit voller Absicht unglückliche Menschen. Wenn ich dann behaupte, sie seien alle selbst schuld, weil sie keine "richtige Einstellung zum Leben" hätten, dann ist das nicht nur dreist und frech, sondern auch menschenverachtend.

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