Sonntag, 1. März 2015

„Wer nicht arbeitet, braucht auch nichts zu essen“ - Glaubenssätze aus dem deutschen Alltag



Ich möchte mich an dieser Stelle outen. Ich liebe Leserkommentare. Ob die FAZ, Spiegel Online oder die Zeit, oft genügt mir ein Blick in die Kommentare, um einen deutlichen Querschnitt durch die Denke der breiten Masse zu bekommen. Oftmals erübrigt sich sogar die Lektüre des eigentlichen Artikels, um zu verstehen, wo der gesellschaftliche Hase hinläuft. Ich konnte mir so gewissermaßen das Psychologiestudium sparen. Die menschliche Natur lässt sich auch ausgezeichnet anhand der Aussagen in Foren oder bei Facebook studieren.
Die Möglichkeit scheinbar anonym und ohne größere Konsequenzen zu allem seinen Senf dazugeben zu können, lockt unzählige Menschen aus ihren dunklen Löchern und Verschlägen, die man so wohl nie zu Gesicht bekommen hätte. Die Hemmungen fallen schnell, wenn keiner zurück spucken kann.
Nun gibt es auch genug Trolle. Menschen, die eine provokante Aussage, wie ein rohes Stück Fleisch in die hungrige Meute werfen und genüsslich dabei zusehen, wie sich die Menge gegenseitig darum reißt.

„Don’t feed the trolls“
 
Aber es gibt auch die Menschen, in denen gärt es schon lange. Sie warten nur auf die richtige Gelegenheit endlich ihre unverdaute Frustration der Menge entgegen kotzen zu können. Ob Impfdebatte oder zu niedrige Hartz IV – Unterstützung, man kann ziemlich sicher sein, dass bei solchen Themen eine sachliche Diskussion unmöglich ist.
Oft lese ich die Kommentare mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Wie bei einem Unfall, bei dem man einfach nicht wegschauen kann. Sicher wäre es interessant mal eine nicht empirische Kategorisierung der verschiedenen Kommentartypen vorzunehmen.
Manche Aussagen beschäftigen mich dann auch schon mal einige Tage. Eine war: Wer nicht arbeitet, braucht auch nichts zu essen. Ein Kommentar zu einem Spiegelartikel über Hartz IV. Nun glaubte der Mann seine Oma zu zitieren. Eine Freundin, die ich nach ihrer Meinung dazu fragte, zog sofort die Parallele zu einem gewissen Ort an dessen Eingangstor „Arbeit macht frei“ steht und ehrlich gesagt, war dies auch meine erste Assoziation.

Ideologie aus dem 3. Reich?

Nun handelt es sich hier aber weder um eine Ideologie aus dem Dritten Reich, noch um Weisheiten aus Omas Nähkästchen. Dieser Spruch stammt tatsächlich aus der Bibel, um genau zu sein aus dem 2. Brief des Paulus an die Thessanolicher. Nun heißt es aber dort: „so jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.“
2006 hat der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering diesen Spruch wieder aufgegriffen, allerdings ohne das Wörtchen ‚will‘ was einige Gemüter erhitzte und den Rest trotzdem in eifriger Zustimmung mit dem Kopf nicken ließ. Schon enttäuschend solch einen Satz von Sozialdemokraten zu hören.
Aber es hilft ja alles nichts. Selberdenken ist mal wieder angesagt. Und ich sage euch jetzt mal was. Mir ist scheißegal ob dieser Spruch aus der Bibel, von Karl-Dieters Oma oder vom Weihnachtsmann stammt. Diese Aussage ist höchstproblematisch und, wenn man sie auf eine gewisse Weise auslegt, absolut antisozial.
Ich schätze zwar nicht, dass es der Bibel um die Rechtfertigung kapitalistischer Ausbeuter ging. Auch geht es mir hier nicht um eine Auslegung der Bibel. Fakt ist allerdings, wie die breite Masse diesen Satz heute versteht und immer wieder gebraucht. Menschen sollen ihrem Schicksal
überlassen werden, wenn sie zur Gemeinschaft nichts beitragen, frei nach dem Motto: Nur die Harten kommen in’n Garten.
Ich spare an dieser Stelle bewusst Kranke und Behinderte aus und möchte mal stillschweigend davon ausgehen, dass Leute, die unreflektiert solche alten Parolen bemühen, hoffentlich nicht auch diesen Personenkreis sich selbst überlassen würden. Ja, ich glaube manchmal doch noch an das Gute.
Menschen, die solch ein Zitat bringen, unterstellen ihren Mitmenschen einen Arbeitsunwillen. Nun frage ich mich, wie man den Arbeitswillen jedes Einzelnen überprüfen will. Aber wahrscheinlich reicht den meisten schon der Zustand der Arbeitslosigkeit selbst als Beweis dafür. Schließlich herrscht in einem Großteil der Bevölkerung ja immer noch das Motto, wer arbeiten will, bekommt auch Arbeit. Im Januar diesen Jahres standen 3.031.604 Arbeitslose 485.172 gemeldeten Stellen gegenüber. Auf ungefähr 6 Arbeitslose kommt also eine gemeldete Stelle. Und für die Vielen, die jetzt denken: Och, das ist doch noch alles im Rahmen. Zu diesen Stellen gehören auch jede Menge Minijobs, Teilzeitstellen, unterbezahlte Fristbeschäftigungen und prekäre Leiharbeit. Nicht jeder rennt jubelnd in die Brötchenfabrik, wo 12 - 14 Stundenschichten geschoben werden und Sicherheitsvorschriften eher Fremdwörter für die Vorgesetzten sind. Ebenso ist es vielleicht nicht jedermanns Sache sich täglich stundenlang im Callcenter von frustrierten Kunden anbrüllen zu lassen und die Frage nach der Vergütung von Überstunden zirpende Stille im Kopf des Teamleiters auslöst.  

Aber wie heißt es so schön: Sozial ist, was Arbeit schafft.

Auch wenn man nicht davon leben kann, auch wenn man ausgebeutet wird, auch wenn man sich überhaupt nicht wertgeschätzt fühlt in dem was man tut, auch wenn man unglücklich ist. Hauptsache Arbeit. Um gute Arbeit, faire Arbeit geht es schon lange nicht mehr. Um Arbeit auf Augenhöhe.
Auch die Definition von Arbeit ist für mich in der Hinsicht zu einfach gestrickt. Hausarbeit, Kindererziehung, Ehrenamt, Pflege von Angehörigen oder sonstige Tätigkeiten zählen nach dieser Kategorisierung wohl eher nicht unter dieses Prinzip. Hier geht es um reine Erwerbsarbeit gegen Geld.
Letztlich impliziert die Aussage „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ Zwang und die Erpressbarkeit jedes Einzelnen. Arbeiten um jeden Preis, zu jeder Kondition und unter jeglichen Bedingungen, nur um der Schande sozialer Ausgrenzung und dem Vorwurf, anderen auf der Tasche zu liegen, zu entgehen. Wenn dies die einzige Motivation in unserer Gesellschaft ist, arbeiten zu gehen, dann halte ich diesen Glaubenssatz – denn mehr ist diese Aussage nicht – für höchst fragwürdig.  
Würde ich das aus dem Mund von Politikern und Konzernchefs hören, würde ich mit den Achseln zucken. Ich erwarte von ihnen nichts anderes mehr. Schwierig wird es für mich dagegen schon, wenn solche Sprüche von Stammtischbrüdern und kleinen Arbeitern kommen. Ihr Beweggrund ist nicht die Gier nach immer mehr Geld, sondern lediglich die kleingeistige Verteidigung ihres eng abgesteckten Territoriums. Auf mich wirkt es, wie der Versuch, das triste Arbeitsdasein aufzuwerten, indem man sich von dem faulen Arbeitslosenpack abgrenzt. Oder wie kommt man darauf, so selbstgerecht über andere zu urteilen?

Zum Schluss möchte ich noch sagen:

Vielleicht ist es an der Zeit nicht immer nach unten zu treten und auf die Kleinen drauf zu hauen. Es soll ja auch reiche Menschen geben, die nicht arbeiten. Sollen die dann auch nicht essen, obwohl die Geld haben? Vielleicht sollten wir mal nach oben blicken und überlegen, ob da so alles richtig läuft. Wenn wir uns trauen...

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