Ich möchte mich an dieser Stelle outen.
Ich liebe Leserkommentare. Ob die FAZ, Spiegel Online oder die Zeit, oft genügt
mir ein Blick in die Kommentare, um einen deutlichen Querschnitt durch die
Denke der breiten Masse zu bekommen. Oftmals erübrigt sich sogar die Lektüre
des eigentlichen Artikels, um zu verstehen, wo der gesellschaftliche Hase
hinläuft. Ich konnte mir so gewissermaßen das Psychologiestudium sparen. Die
menschliche Natur lässt sich auch ausgezeichnet anhand der Aussagen in Foren
oder bei Facebook studieren.
Die Möglichkeit scheinbar anonym und
ohne größere Konsequenzen zu allem seinen Senf dazugeben zu können, lockt
unzählige Menschen aus ihren dunklen Löchern und Verschlägen, die man so wohl
nie zu Gesicht bekommen hätte. Die Hemmungen fallen schnell, wenn keiner zurück
spucken kann.
Nun gibt es auch genug Trolle. Menschen,
die eine provokante Aussage, wie ein rohes Stück Fleisch in die hungrige Meute
werfen und genüsslich dabei zusehen, wie sich die Menge gegenseitig darum reißt.
„Don’t
feed the trolls“
Aber es gibt auch die Menschen, in denen
gärt es schon lange. Sie warten nur auf die richtige Gelegenheit endlich ihre
unverdaute Frustration der Menge entgegen kotzen zu können. Ob Impfdebatte oder
zu niedrige Hartz IV – Unterstützung, man kann ziemlich sicher sein, dass bei
solchen Themen eine sachliche Diskussion unmöglich ist.
Oft lese ich die Kommentare mit einer
Mischung aus Faszination und Entsetzen. Wie bei einem Unfall, bei dem man einfach
nicht wegschauen kann. Sicher wäre es interessant mal eine nicht empirische
Kategorisierung der verschiedenen Kommentartypen vorzunehmen.
Manche Aussagen beschäftigen mich dann
auch schon mal einige Tage. Eine war: Wer nicht arbeitet, braucht auch nichts zu
essen. Ein Kommentar zu einem Spiegelartikel über Hartz IV. Nun glaubte
der Mann seine Oma zu zitieren. Eine Freundin, die ich nach ihrer Meinung dazu
fragte, zog sofort die Parallele zu einem gewissen Ort an dessen Eingangstor
„Arbeit macht frei“ steht und ehrlich gesagt, war dies auch meine erste
Assoziation.
Ideologie
aus dem 3. Reich?
Nun handelt es sich hier aber weder um
eine Ideologie aus dem Dritten Reich, noch um Weisheiten aus Omas Nähkästchen. Dieser
Spruch stammt tatsächlich aus der Bibel, um genau zu sein aus dem 2. Brief des
Paulus an die Thessanolicher. Nun heißt es aber dort: „so jemand nicht will
arbeiten, der soll auch nicht essen.“
2006 hat der damalige SPD-Vorsitzende
Franz Müntefering diesen Spruch wieder aufgegriffen, allerdings ohne das
Wörtchen ‚will‘ was einige Gemüter erhitzte und den Rest trotzdem in eifriger
Zustimmung mit dem Kopf nicken ließ. Schon enttäuschend solch einen Satz von
Sozialdemokraten zu hören.
Aber es hilft ja alles nichts.
Selberdenken ist mal wieder angesagt. Und ich sage euch jetzt mal was. Mir ist scheißegal
ob dieser Spruch aus der Bibel, von Karl-Dieters Oma oder vom Weihnachtsmann stammt.
Diese Aussage ist höchstproblematisch und, wenn man sie auf eine gewisse Weise
auslegt, absolut antisozial.
Ich schätze zwar nicht, dass es der
Bibel um die Rechtfertigung kapitalistischer Ausbeuter ging. Auch geht es mir
hier nicht um eine Auslegung der Bibel. Fakt ist allerdings, wie die breite
Masse diesen Satz heute versteht und immer wieder gebraucht. Menschen sollen
ihrem Schicksal
überlassen werden, wenn sie zur Gemeinschaft nichts beitragen, frei nach dem Motto: Nur die Harten kommen in’n Garten.
überlassen werden, wenn sie zur Gemeinschaft nichts beitragen, frei nach dem Motto: Nur die Harten kommen in’n Garten.
Ich spare an dieser Stelle bewusst
Kranke und Behinderte aus und möchte mal stillschweigend davon ausgehen, dass
Leute, die unreflektiert solche alten Parolen bemühen, hoffentlich nicht auch
diesen Personenkreis sich selbst überlassen würden. Ja, ich glaube manchmal doch
noch an das Gute.
Menschen, die solch ein Zitat bringen, unterstellen
ihren Mitmenschen einen Arbeitsunwillen. Nun frage ich mich, wie man den
Arbeitswillen jedes Einzelnen überprüfen will. Aber wahrscheinlich reicht den
meisten schon der Zustand der Arbeitslosigkeit selbst als Beweis dafür.
Schließlich herrscht in einem Großteil der Bevölkerung ja immer noch das Motto,
wer arbeiten will, bekommt auch Arbeit. Im Januar diesen Jahres standen 3.031.604
Arbeitslose 485.172 gemeldeten Stellen gegenüber. Auf ungefähr 6 Arbeitslose
kommt also eine gemeldete Stelle. Und für die Vielen, die jetzt denken: Och,
das ist doch noch alles im Rahmen. Zu diesen Stellen gehören auch jede Menge
Minijobs, Teilzeitstellen, unterbezahlte Fristbeschäftigungen und prekäre Leiharbeit.
Nicht jeder rennt jubelnd in die Brötchenfabrik, wo 12 - 14 Stundenschichten
geschoben werden und Sicherheitsvorschriften eher Fremdwörter für die
Vorgesetzten sind. Ebenso ist es vielleicht nicht jedermanns Sache sich täglich
stundenlang im Callcenter von frustrierten Kunden anbrüllen zu lassen und die
Frage nach der Vergütung von Überstunden zirpende Stille im Kopf des Teamleiters
auslöst.
Aber
wie heißt es so schön: Sozial ist, was Arbeit schafft.
Auch wenn man nicht davon leben kann,
auch wenn man ausgebeutet wird, auch wenn man sich überhaupt nicht wertgeschätzt
fühlt in dem was man tut, auch wenn man unglücklich ist. Hauptsache Arbeit. Um
gute Arbeit, faire Arbeit geht es schon lange nicht mehr. Um Arbeit auf
Augenhöhe.
Auch die Definition von Arbeit ist für
mich in der Hinsicht zu einfach gestrickt. Hausarbeit, Kindererziehung,
Ehrenamt, Pflege von Angehörigen oder sonstige Tätigkeiten zählen nach dieser
Kategorisierung wohl eher nicht unter dieses Prinzip. Hier geht es um reine
Erwerbsarbeit gegen Geld.
Letztlich impliziert die Aussage „Wer
nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ Zwang und die Erpressbarkeit jedes
Einzelnen. Arbeiten um jeden Preis, zu jeder Kondition und unter jeglichen
Bedingungen, nur um der Schande sozialer Ausgrenzung und dem Vorwurf, anderen
auf der Tasche zu liegen, zu entgehen. Wenn dies die einzige Motivation in
unserer Gesellschaft ist, arbeiten zu gehen, dann halte ich diesen Glaubenssatz
– denn mehr ist diese Aussage nicht – für höchst fragwürdig.
Würde ich das aus dem Mund von
Politikern und Konzernchefs hören, würde ich mit den Achseln zucken. Ich
erwarte von ihnen nichts anderes mehr. Schwierig wird es für mich dagegen
schon, wenn solche Sprüche von Stammtischbrüdern und kleinen Arbeitern kommen. Ihr
Beweggrund ist nicht die Gier nach immer mehr Geld, sondern lediglich die
kleingeistige Verteidigung ihres eng abgesteckten Territoriums. Auf mich wirkt
es, wie der Versuch, das triste Arbeitsdasein aufzuwerten, indem man sich von
dem faulen Arbeitslosenpack abgrenzt. Oder wie kommt man darauf, so
selbstgerecht über andere zu urteilen?
Zum
Schluss möchte ich noch sagen:
Vielleicht ist es an der Zeit nicht
immer nach unten zu treten und auf die Kleinen drauf zu hauen. Es soll ja auch reiche Menschen geben, die nicht arbeiten. Sollen die dann auch nicht essen, obwohl die Geld haben? Vielleicht sollten
wir mal nach oben blicken und überlegen, ob da so alles richtig läuft. Wenn wir uns trauen...
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