Wenn man unter
Depressionen leidet, bildet man sich ein, alle Anderen führten ein
erfülltes und glückliches Leben voller Liebe, Leidenschaft und
bedeutsamer Erfahrungen und man selbst sei der Einzige, der mit
Gefühlen der inneren Leere und Sinnlosigkeit der eigenen Existenz zu
kämpfen habe. Man (oder besser gesagt: ich) will das auch, was „die“
haben, will die Fantasie leben, die mir schöne Reisefotos, rotwangig
strahlende Mittdreißigerfrauen auf Fixie-Rädern, fesch gekleidete
Paare in Altstadt-Bistros und Vice-Artikel über die geilsten
Studenten-WG-Parties versprechen. Große Verzweiflung und
Selbstvorwürfe, als ich nach zahlreichen kräftezehrenden Anläufen
und Therapien begreife, dass ich der ersehnten Eingliederung in das
große Kollektiv der „Ich führ' ein geiles Leben“-Menschen kaum
näher gekommen bin.
Doch ist das überhaupt
ein lohnenswertes Ziel? Mittlerweile hege ich den Verdacht, dass sich
viele meiner Mitmenschen einfach bessere Verdrängungsmechanismen
angeeignet haben, die sie glauben machen,
sie seien nicht von Einsamkeit, Stumpfsinn oder der nicht klärbaren
Frage nach dem „Warum?“ betroffen. Denn das sind keineswegs
Belange, die ausschließlich Depressionserkrankte betreffen. Warum
sollten Alle außer mir eine „magische Formel des Glücks“
kennen, die den gähnenden, tiefschwarzen Schlund der Vergeblichkeit,
den ich in jedem menschlichen Wesen vermute, stopft?
In Zeiten der
säkularisierten westlichen Gesellschaft, in der Religionen als
Bereitsteller von Sinn und Antworten stark an Bedeutung verloren
haben, werden persönliche Hobbies und Lifestyles zum sinn- und
identitätsstiftenden Element verklärt. Was suchen denn Workaholics,
Extremsportler, Fitnessfreaks, Öko-Asketen, Shoppingsüchtige,
Feierwütige und politische Extremisten in ihren Obsessionen? So
etwas wie einen Daseinszweck, oder zumindest eine Zerstreuung von
dem, was sich im Inneren abspielt und unangenehm anfühlt. Aus dem
Bedürfnis heraus, sich niemals den eigenen Abgründen stellen zu
müssen, entstehen Neurosen, pervertierte Ideologien und emotionale
Abhängigkeiten von Profanitäten wie Geld oder den „richtigen“
Lebensmitteln.
'Viele Dinge tun' wird
gleichgesetzt mit 'ein erfülltes Leben führen'. Wer sich viel
erarbeitet, viel konsumiert, viel reist, viel feiert, viel Sport
macht, viele soziale Kontakte knüpft oder viel kreiert, weiß, wohin
mit sich und wie er mit dem riesigen Berg Lebenszeit umgehen soll.
Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich mir im Vergleich zu
Anderen so bräsig vorkomme: ich mache viel weniger. Ich habe an den
genannten Aktivitäten nur mäßiges Interesse. Ich stecke nicht
drin. Schaffe es nicht, in das Glücksprogramm einsteigen. Kann nicht
einschätzen, in welchem Umfang diese Tatsache depressionsbedingt
oder eher eine generelle Leidenschaftslosigkeit hinsichtlich
gesellschaftlicher Beschäftigungsmaßnahmen ist.
Mir fällt leider auch
nichts Anderes gegen die Stille im Kopf ein. Kann es also nicht
besser machen. Laufe nur immer wieder mit Kawumms in die
gleichen Sackgassen und beneide die Leute, die bis zum Ende im
Kreisverkehr rennen.